Staatsverschuldung, Europa und der globale Süden
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Überblick
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Hintergrundinformationen11 Themen
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Was sind Schulden? Was ist Staatsverschuldung?
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Ist eine hohe Staatsverschuldung immer schlecht?
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Was verursacht eine Schuldenkrise?
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Die Jahrzehnte von Bretton Woods
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Die erste globale Staatsschuldenkrise
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Staatsschuldenkrise im globalen Norden
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Die neue Schuldenkrise
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Lösung von Schuldenkrisen (1): Welche Möglichkeiten gibt es?
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A: Der neoliberale Ansatz zur Bewältigung von Schuldenkrisen
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Lösung von Schuldenkrisen (2): Bedingungen, Strukturanpassung und wirtschaftliche Erholung
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Schulden: Lektüre zur Vertiefung
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Was sind Schulden? Was ist Staatsverschuldung?
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Endnoten
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Glossar
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Quellen und Hinweise
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A: Der neoliberale Ansatz zur Bewältigung von Schuldenkrisen
Diese Ad-hoc-Reaktion auf Staatsschuldenkrisen folgt dem neoklassischen Modell des Verständnisses von Staatsverschuldung. Es geht, wie wir oben gesehen haben, davon aus, dass Schuldenkrisen auf übermäßige Staatsausgaben zurückzuführen sind. Dementsprechend folgen auch die Lösungsansätze dieser neoliberalen Denkschule und weisen im Allgemeinen einige oder alle der folgenden Merkmale auf:
● Neue Notkredite zur Deckung kurzfristiger Schuldenrückzahlungen an die Gläubiger, anstatt Schuldenabschreibungen auszuhandeln.
● Umschuldung nur in Formen, die sicherstellen, dass die Gläubiger letztendlich bezahlt werden.
● Sparmaßnahmen zur Senkung der öffentlichen Ausgaben des öffentlichen Sektors, bei Gesundheit, Bildung, Sozialleistungen usw.
● Wirtschaftsreformen (oft in Form von Bedingungen, die an Notkredite geknüpft sind), mit dem Schwerpunkt auf der Privatisierung staatlicher Unternehmen, öffentlicher Vermögenswerte und Dienstleistungen, Aufhebung von Schutzmaßnahmen für die einheimische Industrie oder Landwirtschaft und die Liberalisierung des Handels.
Darüber hinaus ist die neoliberale Schule der Ansicht, dass bei einer Schuldenkrise zwar eine bessere Koordinierung zwischen den Gläubigern erforderlich ist, die Verantwortung dafür aber beim IWF liegen sollte. Der IWF ist jedoch selbst ein Kreditgeber – und damit nicht in der Lage, ein neutraler Schiedsrichter zu sein. Selbst der IWF räumt jedoch ein, dass “neue Herausforderungen für eine mögliche Schuldenregulierung“ bestehen, aufgrund der zunehmenden Komplexität der Staatsverschuldung. Insbesondere steigt mit immer mehr beteiligten Kreditgebern und vielen verschiedenen Arten von Krediten auch die Schwierigkeit der Gläubigerkoordinierung, die erforderlich ist, um umfassende, für alle wichtigen Gläubiger akzeptable Vereinbarungen zu erzielen.
Grundsätzlich ist aber bei diesem Ansatz nur der Kreditnehmer für seine Schulden verantwortlich. Es wird implizit davon ausgegangen, dass die Kreditvergabe verantwortungsbewusst erfolgt und die Fähigkeit des Kreditnehmers, die Schulden zurückzuzahlen, mit der gebotenen Sorgfalt geprüft wird. Bei der Bewertung der Schuldentragfähigkeit stellen Kreditgeber wie der IWF fest, ob sich ein Schuldnerland die Aufnahme weiterer Schulden leisten kann. Dabei wird aber kaum – wenn überhaupt – berücksichtigt, welche Auswirkungen die Rückzahlungen auf das Gesundheits- oder Bildungswesen haben können.
Das Fehlen eines koordinierten Schuldenmoratoriums ist während der Covid19-Pandemie besonders deutlich zu spüren. Obwohl sich die Regierungen und die internationalen Finanzinstitutionen im Prinzip über die Notwendigkeit eines Schuldenerlasses einig sind, gibt es kein definiertes Forum, in dem darüber verhandelt werden kann.
Wenn so ein koordinierendes Forum aber fehlt, entstehen Probleme wie dieses: ein Land gewährt ein Schuldenmoratorium, andere aber nicht – so dass am Ende die für das Schuldnerland freiwerdenden Mittel einfach zur Rückzahlung an andere Gläubiger verwendet werden. Daher ist nur ein koordinierter und durchsetzbarer Mechanismus effektiv, der die Beteiligung aller Gläubiger erfordert.
Ohne einen internationalen Rechtsmechanismus für die Aushandlung von Schuldenmoratorien können insbesondere private Gläubiger die Schuldnerländer jederzeit verklagen, weil sie die Bedingungen ihrer Kredite nicht einhalten.
Dabei hat das Fehlen eines klaren Mechanismus für den Umgang mit Staatsschuldenkrisen nicht bedeutet, dass die Gläubiger ungeschoren davongekommen sind. Da es keinen Umstrukturierungsmechanismus gibt, wurden die Schuldenrückzahlungen häufig einseitig
ausgesetzt, anstatt sie auszuhandeln oder nach vereinbarten Regeln auszusetzen. Seit 1980 wurde fast ein Drittel der Aussetzungen von Staatsschuldenzahlungen durch Verhandlungen mit den Gläubigern beschlossen. In den übrigen Fällen, insbesondere während der Schuldenkrise in den 1980er Jahren, wurden Schuldenmoratorien ohne die Zustimmung der Gläubiger beschlossen.
B: Die Alternative: Forderung nach einem Mechanismus zur Umstrukturierung von Staatsschulden, für verantwortungsvolle Kreditvergabe und eine bessere Beurteilung der Schuldentragfähigkeit
Befürworter der Schuldengerechtigkeit verfolgen einen ganzheitlicheren Ansatz in Bezug auf Schuldenkrisen und sind der Ansicht, dass Maßnahmen zur Vermeidung von Schuldenkrisen in drei Bereichen erforderlich sind:
1. Verhinderung von Schuldenkrisen durch bessere Regeln für die Kreditvergabe und die Bewertung der Tragfähigkeit von Schulden. Dies würde bedeuten, dass alle Kreditgeber verpflichtet sind, sorgfältig zu prüfen, ob die von ihnen gewährten Kredite ohne Beeinträchtigung der Menschenrechte zurückgezahlt werden können. Derzeit wird bei der Bewertung der Schuldentragfähigkeit nur geprüft, ob die Schulden zurückgezahlt werden können. Und wenn dies nicht der Fall ist, wird vorgeschlagen, die Ausgaben im öffentlichen Sektor, zum Beispiel bei den Sozialausgaben zu kürzen. Dies würde auch bedeuten, dass der IWF keine Kredite mehr allein zu dem Zweck vergibt, Schulden bei anderen, rücksichtslosen Kreditgebern zu begleichen, da diese Praxis nur zu weiteren rücksichtslosen Kreditvergaben ermutigt.
2. Gerechter Umgang mit Schuldenkrisen durch die Einrichtung einer neuen internationalen Schuldenregulierungsbehörde. Dieses Gremium, als multilateraler Schuldenbereinigungsmechanismus bekannt, wäre Teil der Vereinten Nationen und sowohl von Gläubigern als auch von Kreditgebern unabhängig. Es hätte die rechtliche Befugnis, auf Antrag eines Schuldnerlandes, dessen Schuldenkrise zu untersuchen und eine Lösung vorzuschlagen. Sobald die Einschaltung der Behörde beantragt wäre, dürften die Gläubiger die Schuldnerländer nicht mehr auf Rückzahlung verklagen. Der Mechanismus hätte die Aufgabe, die Berechtigung aller von den Gläubigern erhobenen Rückzahlungsforderungen zu prüfen, auch auf die Frage hin, ob sie angemessen oder potenziell ungerecht sind. Er würde unvoreingenommen mit Gläubigern und Schuldnern verhandeln und einen unparteiischen und durchsetzbaren Vorschlag zur Umstrukturierung der Schulden eines Landes vorlegen. Ein UN basierter Schuldenbereinigungsmechanismus genießt große Unterstützung: 2014 unterstützte eine Mehrheit der Länder in der UN-Generalversammlung einen Antrag, der seine Einrichtung befürwortete. Doch ohne die Unterstützung der reichen Länder ist die das Projekt nicht vorangekommen.
3. Den Ländern helfen, eine höhere Verschuldung zu vermeiden, indem sie in die Lage versetzt werden, ihre Volkswirtschaften nachhaltig zu entwickeln, ohne aufgezwungene neoliberale Politik. Dazu gehören internationale Maßnahmen, die den Regierungen helfen, in ihren eigenen Ländern Geld zu beschaffen (inländische Ressourcenmobilisierung), indem sie beispielsweise Steuern von großen Unternehmen erheben. Derzeit zahlen internationale Konzerne in armen Ländern weit weniger Steuern als sie sollten, da viele Schlupflöcher genutzt werden, zur Minimierung von Steuerzahlungen und für illegale Finanzströme. Ebenso gilt es schädliche Sparauflagen abzuschaffen, die oft an Kredite geknüpft sind oder von großen Kreditgebern gefordert werden.
